Abschied vom Mythos – Augenblicke am Berliner Platz (2)

Vereins-News

19.06.2016 12:1919.06.2016 12:19 | geschrieben von Philippe Bader

Abschied vom Mythos – Augenblicke am Berliner Platz (2)

"Der Berliner Platz steckt eben tatsächlich voller Geschichten"

Von Manfred Kraus

Der ESV Kaufbeuren nimmt Abschied vom Mythos Berliner Platz. Ein Spieljahr noch, dann wird der Vorhang für immer fallen und die altehrwürdige Kultbühne rotgelber Leidenschaft nur mehr Geschichte sein. Höchste Zeit, um Augenblicke zu sammeln, Augenblicke am Berliner Platz. Jörg Dietrich Achenbach und Georg Fischer tun das heute für uns.

„Die Begebenheit ist winzig und vordergründig scheint sie auch keine größere Bedeutung zu haben. Vielleicht besitzt sie aber dennoch eine Aussagekraft. Jedenfalls hat mein Gedächtnis sie sehr lange aufbewahrt. Sie ist mir aus den siebenundzwanzig Jahren, in denen ich dem ESVK nun schon die Treue halte, besonders lebhaft in Erinnerung geblieben. Es war Anfang der Neunziger, als in der Zeit um Weihnachten der Berliner SC Preußen in Kaufbeuren gastierte und am Berliner Platz fürchterlich unter die Räder kam. Die Hauptdarsteller meines Lieblingsaugenblicks sind Stürmer Hans-Jörg Mayer, den der ESVK eigens für das Spiel von einem beruflichen Lehrgang zurückgeholt hatte, und Berlins Nationalgoalie Klaus Merk. Womit wir schon mitten im Geschehen sind. Klaus Merk stand nämlich relativ weit vor seinem Tor und er führte den Puck eng an seiner Torwartkelle. Um die Kaufbeurer herauszulocken und dann mit einem überraschenden Pass nach vorne den eigenen Angriff einzuleiten, tändelte der gebürtige Augsburger aufreizend lange. Das grenzte fast schon an Arroganz. Unser junger Angreifer Hans-Jörg Mayer aber erkannte geistesgegenwärtig, welche Chance in Klaus Merks Taktieren lag. Er fuhr plötzlich mit ein paar blitzschnellen Schlittschuhschritten überfallartig auf den Keeper zu, machte seinen Schläger ganz lang, luchste ihm mit einer geschickten Stockbewegung den Puck ab, umkurvte ihn und netzte lässig ins verwaiste Tor ein. Ein kleiner Geniestreich, der am Berliner Platz ausgelassenen Jubel ausbrechen ließ. Klaus Merk dürfte aber wohl froh gewesen sein, dass die Torwartmaske sein verdutztes Gesicht verbarg. Wie gesagt, ein winziger Augenblick ist das, auf den zweiten Blick aber vielleicht doch mehr als nur eine Anekdote. Hier der Verein aus der kleinen Stadt im Allgäu, dort der Hauptstadtclub aus der Dreimillionenmetropole. Vielleicht hat der Augenblick ein bisschen das Zeug, um als Symbol zu taugen, als Symbol für den ESVK, der sich mit Kampfgeist, Geschick, Können und Raffinesse seit jeher gegen die Eishockeygoliaths behauptet. Eine Rolle, die dem eher schmächtig wirkenden Hans-Jörg Mayer wie auf den Leib geschneidert war, wodurch er als Sinnbild für den ESVK stehen kann. Genauso wie sein tolles Tor gegen keinen Geringeren als Nationaltorwart Klaus Merk als Sinnbild für ihn selbst steht." (Jörg Dietrich Achenbach, 51, Kaufbeuren)

„Eigentlich kommt auch mir auf Anhieb das Wahnsinnsderby gegen unseren Erzrivalen AEV mit dieser unvergleichlichen Aufholjagd in den Sinn. Packende Spannung, mitreißende Stimmung, eine zum Bersten gefüllte Halle, eine irre Torfolge. 7:8. Ein Spiel, das mich emotional gehörig mitgenommen hat. Ich war dreizehn und bin per Anhalter von Ketterschwang nach Kaufbeuren gefahren, um dabei zu sein bei diesem Derbyabend für die Ewigkeit. Die Geschichte des Berliner Platzes birgt aber aufregende Augenblicke zuhauf. Deswegen möchte ich an eine furiose Aufholjagd jüngeren Datums erinnern. Es fehlte zwar die Brisanz der Lokalrivalität, aber die stürmischen Schlussminuten sollten nicht in Vergessenheit geraten. Sie krönten einen überwältigenden Endspurt und sie verwandelten den Berliner Platz in ein Tollhaus. Und das kam so. Im Herbst 2003 war der ETC Crimmitschau zu Gast. Sergej Svetlov trainierte damals den ESVK, der hoffnungslos mit 0:3 in Rückstand lag. Auf eine Wende konnte man eigentlich keinen Pfifferling mehr geben. Schließlich blieben nicht einmal mehr zehn Minuten zu spielen und außerdem hielt Crimmitschaus großer Rückhalt und Publikumsliebling Radek Toth überragend. Zwar keimte in der 51. Minute nach Dominic Augers Treffer noch einmal Hoffnung auf, als Ervin Masek fünf Minuten vor Schluss aber einen Penalty vergab, schien das Spiel endgültig gelaufen. Dann aber überschlugen sich die Ereignisse. Nachdem Buddy Smith zwei Minuten vor dem Ende auf 2:3 verkürzt hatte, brachen alle Dämme. Plötzlich ging es Schlag auf Schlag und Radek Toth verging Hören und Sehen. Beim Ausgleich von Chris Twerdun in der vorletzten Minute warf er wutentbrannt das an die Bande krachende Tor um und beim 4:3 von Buddy Smith in der Schlussminute zertrümmerte er voller Zorn seine Kelle an der Latte. Die Halle aber stand kopf und die Fans waren vollkommen aus dem Häuschen. Sie feierten den ESVK in einer Mischung aus ungläubigem Staunen und heller Begeisterung. Eine verrückte Aufholjagd, der die Joker beim zweiten Gastspiel der Westsachsen kurz nach Neujahr die Krone aufsetzten, als sie erneut ein 0:3 drehten und Patrick Reimer mit einem starken Alleingang in der Verlängerung eiskalt das siegbringende 4:3 schoss. Der Berliner Platz steckt eben tatsächlich voller Geschichten. Er ist eine Fundgrube für das Sammeln von Augenblicken. Mir wird der Abschied von ihm sehr schwerfallen." (Georg Fischer, 53, Ketterschwang)

Haben auch Sie einen Lieblingsaugenblick rund um den Berliner Platz? Dann setzen Sie sich doch über abm.kraus(at)googlemail.com per Email mit Manfred Kraus in Verbindung. Wir alle freuen uns darüber.

Text und Abbildung: Manfred Kraus (die Unterschriften auf der Dauerkarte stammen von Ladislav Lubina und Cestmir Fous)

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