Derby - Ein Beitrag von Manfred Kraus

Eishockey Allgemein

23.02.2016 20:3623.02.2016 20:36 | geschrieben von ESVK-Presseteam

Derby - Ein Beitrag von Manfred Kraus

Eine Annäherung an ein Phänomen

Die Zuschauer standen eng aneinander gepresst wie die Heringe. Es hätte keine Stecknadel mehr zu Boden fallen können. Trotzdem drängten ganze Menschenhorden unablässig auf die längst überfüllten Tribünen. Verrückte kletterten halsbrecherisch hinter der Holzverschalung bis unters Hallendach. Der Berliner Platz brodelte. Er drohte aus allen Nähten zu platzen. Die Anspannung war kolossal, die Stimmung aufgeheizt. Kaufbeuren und Augsburg, das war wie Hund und Katze, wie Feuer und Wasser, wie Himmel und Hölle. Die Rivalität schien unermesslich. Schon Tage vor dem Spiel hatte einen das Derbyfieber erfasst. Sich dagegen zu wehren, war zwecklos. Als die Mannschaften endlich das Eis betraten, hätte ein Funke genügt und das Pulverfass wäre in die Luft geflogen.

Stimmgewaltig peitschte eine rotgrünweiße Wand aus dreitausend Augsburger Schlachtenbummlern ihre Farben nach vorne, den frankokanadischen Torjäger Bob Lamoureux, den ausgefuchsten Finnen Jouni Samuli, die jungen Himmelsstürmer Holger Meitinger und Ernst Höfner. Die Kaufbeurer Anhänger hielten dagegen. Lautstark und leidenschaftlich. Sie standen wie ein Mann hinter ihrer Mannschaft, die sich um den großen alten Georg Scholz scharte und auf den schwedischen Wirbelwind Kaj Nilsson, den pfeilschnellen Gerhard Schuster, den blutjungen Dieter Medicus baute.

Man schrieb das Jahr 1975 und der Berichterstatter des Bayerischen Fernsehens sprach tags darauf von achttausend Zuschauern, die sich in die bis zum Bersten gefüllte Kaufbeurer Eishalle gezwängt haben sollen, um das hitzige Gipfeltreffen der Zweiten Bundesliga mitzuerleben. Wenn sich Kaufbeuren und Augsburg zum sportlichen Meinungsaustausch trafen, herrschte Ausnahmezustand. Traditionell. Schon immer. Auch damals.

Überall auf der Welt elektrisieren Derbys die Massen. Sie schlagen die Menschen magisch in ihren Bann. Polarisieren. Spalten. Verbinden. Manifestieren die Identifikation mit dem eigenen Verein. Außer Kraft sind die Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Jene der Vernunft auch. Man gönnt dem Verstand eine Pause. Für sanfte Gemüter ist da kaum Platz. Es wird mit der großen Kelle angerührt. Schließlich pflegt man Gegensätze. Nicht selten auch Abneigungen. Gegen einen Widersacher, den man am liebsten auf den Mond schießen würde, wäre die Eishockeywelt ohne ihn nicht doch viel zu leer. Bei der Bewertung einer Saison dienen Derbys als Brennglas. Sie sind das Salz in der Suppe. Die Ärmel werden hochgekrempelt und Legenden geboren. Auch Helden. Nicht mehr und nicht weniger als Weltanschauungen stehen auf dem Spiel und nebenbei werden auch pralle Einnahmen in die Vereinskassen gespült. Über allem aber steht der Derbysieg. Er ist Balsam für die Seele und ein Faustpfand für schlechte Zeiten.

Um den Ursprung des Begriffs Derby zu verstehen, müssen wir uns in die Abgeschiedenheit der englischen East Midlands begeben. Ins Provinzstädtchen Ashbourne. Und tief hinein in die Vergangenheit. Ins Mittelalter, um genau zu sein. Das verschlafene Nest in der hügeligen Grafschaft Derby richtet nämlich schon seit Jahrhunderten die Shrovetide Matches aus, bei denen alljährlich am Faschingsdienstag und am Aschermittwoch ausgiebig der Rivalität zwischen der Oberstadt und der Unterstadt gefrönt wird und ganze Menschenscharen voller Inbrunst und zuweilen auch mit rustikalen Mitteln versuchen, den Ball durch das wuselnde Gedränge zum gegnerischen Tor zu befördern. Einstmals bildeten Mühlsteine das Ziel, heute sind es Steinpyramiden, was schon außergewöhnlich genug wäre. Das Beste aber kommt noch, denn die beiden Objekte der Begierde liegen drei Meilen voneinander entfernt. Es mutet seltsam und kurios an, wenn der Ball entlang dem Flüsschen Henmore getragen, getrieben, geschlagen, geworfen und gekämpft wird, beinahe ein bisschen bizarr.

Wie aber sollte es auch anders sein? Schließlich gilt das Shrovetide Match als die Mutter aller Derbys. Auch des vielleicht berühmtesten Derbys der Gegenwart, das als hochemotionales Stadtduell selbst der Strenge puritanischer Derbydefinitionen standhält. The Old Firm in Glasgow. Dort prallen nicht nur der Celtic FC und der Rangers FC aufeinander, sondern auch die Religionen. Die Fetzen fliegen indessen nicht minder, wenn sich Galatasaray und Fenerbahce beim Interkontinentalen Derby über den Bosporus hinweg bekämpfen, wenn sich der bürgerliche FK Austria im Wiener Derby beim Hütteldorfer Arbeiterklub SK Rapid kein Veilchen holen möchte oder wenn Newcastle United und die Black Cats aus Sunderland beim Tyne-Wear Derby im St. James´ Park ihre aus den Tiefen der Jahrhunderte stammenden Freundlichkeiten austauschen.

Die Intensität der Derbygefühle ist aber eben beileibe kein fußballspezifisches Phänomen und der Sprung zum Eishockey somit kein großer. Die Flieger aus Kloten duellieren sich heißblütig mit den Stadtzürchern vom ZSC, die Bianconeri vom mondänen Luganer See mit den Berglern aus den Dörfern Ambri und Piotta, die Kölner Haie mit der innig verabscheuten DEG. Ein illustrer Kreis, in den sich das mitreißende Wertachderby zwischen dem ESVK und dem AEV einstmals nahtlos einfügte.

Wer in Kaufbeuren Derby sagt, der muss aber natürlich auch Füssen sagen, wobei die ausgeprägte Rivalität mit dem ehemaligen deutschen Serienmeister aus dem Königswinkel lange Zeit unter einem ganz eigenen Stern stand. Zu übermächtig war der sechzehnfache Titelträger, zu überlegen, geradezu unantastbar. Nicht nur für den ESVK. Sondern für die ganze Eishockeyrepublik, vor der sich der EVF auftürmte wie die Allgäuer Alpen.

Der EV Füssen, das war der große Bruder, gegen den man nicht ankam. Nadelstiche vermochte der ESVK freilich schon zu Füssener Glanzzeiten zu setzen. Etwa in den Sechzigern, als ihn der legendäre Xaver Unsinn zu einer deutschen Spitzenmannschaft formte und Talente wie Alfred Lutzenberger, Manfred Hubner und Walter Köberle aus dem Boden schossen. Als Vorrundenzweiter trotzten die Rotgelben dem hochfavorisierten EVF im Winter 1965/66 ein begeisterndes 5:5 und damit eines von nur zwei Unentschieden ab und in der kurzen Meisterrunde stellten sie dem großen Nachbarn sogar ein Bein. Das bemerkenswerte Kaufbeurer 4:2 kostete den erfolgsverwöhnten Füssenern um Leonhard Waitl, Rudolf Thanner und Siegfried Schubert sensationell den Titel und es hievte den EC Bad Tölz auf den Thron.

Die Wachablösung erfolgte jedoch erst eingangs der goldenen Achtziger. Sie kam einer Götterdämmerung gleich, denn der Kaufbeurer Jugendstil sprengte die Ketten einer festgezurrten Hackordnung und er stellte die überkommene Allgäuer Eishockeywelt gleichsam auf den Kopf. Strahlend ging der rotgelbe Stern auf, während der gelbschwarze Zyklop wankte und schließlich fiel. Nicht ohne sich zu sträuben, zu wehren und aufzubäumen. Die Eishockeyfreunde fanden Gefallen daran. Wenn sich die mit Eigengewächsen gespickten Rivalen auf Augenhöhe begegneten, war eine volle Hütte garantiert und am Eingangstor hing ein ums andere Mal das Ausverkauftschild. Der Berliner Platz bebte und der altehrwürdige Kobelhang erlebte seine letzte Blüte.

Frisch stehen die Bilder aus jenen Tagen vor dem geistigen Auge, was nicht wundernimmt, schließlich eigenen sich Derbys als Fundgrube für Momentensammler. Deren Rucksäcke wurden seinerzeit reichlich gefüllt. Sie konnten den Zauber mannschaftlicher Geschlossenheit mitnehmen und Augenblicke zum Zungeschnalzen dazu. Die tschechoslowakischen Weltklassestürmer Vladimir Martinec und Bohuslav Stastny verteilten diese ebenso wie das Kaufbeurer Jahrhunderttalent Didi Hegen mit vollen Händen. Unvergänglich sein nervenzerfetzender Penalty, als er rückwärts auf den verdutzten Beppo Schlickenrieder zufuhr. Anno einundachtzig. Vor vollem Haus. Didi war neunzehn und sechseinhalbtausend Augenpaare starrten gebannt auf ihn. Atemlose Spannung. Ungläubiges Staunen. Plötzlich seine Drehung. Ein ansatzloser Schuss aus dem Handgelenk. Der Ausgleich. 7:7. Frech und genial. Ein Augenblick für die Ewigkeit. Der Berliner Platz tobte. Die Halle stand kopf. Wenn Füssen kam, ging die Post ab, zumal Heißsporn Schorsch Holzmann ein Stadion ganz alleine zum Kochen bringen konnte.

Das Allgäuderby dient aber keineswegs nur für nostalgische Rückblicke. Sein Reiz verstaubt nicht. So alt sie auch sein mag, die Kaufbeurer Rivalität mit Füssen, sie bleibt für immer jung. Und an eine Ligazugehörigkeit klammert sie sich schon gleich gar nicht. Der Nachweis liegt nur wenige Jahre zurück. Es hatte die beiden Traditionsvereine in die Oberliga verschlagen. Aber auch da herrschte in den gerammelt vollen Hallen eine Gänsehautatmosphäre. Derby bleibt Derby. Und Kaufbeuren gegen Füssen, das weckt Leidenschaften.

Derbys fesseln allerorten die Menschen. Der Derbybegriff aber hat gelitten. Heutzutage nimmt in vielen Mannschaften der Anteil an Einheimischen merklich ab, weshalb die Spieler nicht mehr in gleichem Maße wie früher im Verein, in der Stadt und in der Region verwurzelt sind. Gerade daraus aber ziehen die Derbys ihren besonderen Reiz. Hinzu kommt die fortschreitende Aufweichung dessen, was man als Derby bezeichnet. Der Begriff wird zunehmend weitgefasst und verwässert. Nicht alles kann, nicht alles muss ein Derby sein. Echte Derbys beziehen ihre Strahlkraft aus einer gewachsenen Rivalität, aus einer räumlichen Nähe, aus einer gemeinsamen Geschichte. Sie bedürfen einer Tradition und von der Stange gibt es Derbys schon gleich gar nicht. Sie besitzen das gewisse Etwas.

In Kaufbeuren genießen auch die spannungsgeladenen Aufeinandertreffen mit den alten Bundesligarivalen Rosenheim, Riessersee und Landshut eine nicht zu unterschätzende Reputation und die Gastspiele der altbayerischen Konkurrenten locken nach wie vor die Eishockeyfreunde an. Verständlicherweise stellen sie keine Derbys im engeren Sinne dar, doch sorgen die gemeinsame Eishockeyvergangenheit auf höchstem deutschen Niveau und die bayerische Herkunft für eine beträchtliche gegenseitige Anziehungskraft.

Unsere klassischen Kaufbeurer Derbys haben sich derweil eine Auszeit genommen. Augsburg behauptet sich in der Deutschen Eishockey Liga, Füssen ist in die Niederungen der Bezirksliga abgestürzt. Das Lokalkolorit aber leibt und lebt. Fallen die Namen der altvertrauten Erzrivalen, bekommen die Augen der rotgelben Eishockeyfreunde noch immer einen sonderbaren Glanz und der Herzschlag wird hastiger. Da möchte man sich doch glatt dazu verleiten lassen, den Füssenern eine baldige Renaissance zu wünschen, um ihnen wieder einmal so richtig das Fell über die Ohren ziehen zu können.

Text: Manfred Kraus

Foto: Die historische Aufnahme dürfte aus der Zeit um das Jahr 1964 stammen. Rechts ist neben Kapitän Fredl Hynek Erfolgstrainer Xaver Unsinn zu erkennen, links der unvergessene Fritz Medicus.

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