Ein Mann der ersten Stunde

Vereins-News

11.08.2015 19:1911.08.2015 19:19 | geschrieben von Philippe Bader

Ein Mann der ersten Stunde

Manfred Kraus sprach mit Gründungsmitglied Fritz Sturm über die Anfänge des ESVK

Sein Händedruck ist kräftig und seine Stimme fest. Auch seine wachen Augen, sein frischer Gesichtsausdruck und seine stattliche Erscheinung lassen ihn spürbar jünger wirken. Wäre da nicht der Stock, man würde ihm sein wahres Alter nie und nimmer abnehmen. Fritz Sturm zählt sechsundachtzig Lenze. Er ist ein echtes Kaufbeurer Eishockeyurgestein. Und er vermag zu erzählen. Anschaulich und fesselnd. Sein Gedächtnis gleicht einem Schatzkästchen, das Erlebnisse und Begebenheiten aus den Anfängen des Eissportvereins Kaufbeuren sorgsam hütet.

„In der Nachkriegszeit", dreht der alte Recke das Rad der Zeit um sieben Jahrzehnte zurück, „herrschten Not und Elend. Die Zeiten waren sehr hart und die Menschen haben unheimlich gelitten. Unsere ganze Leidenschaft aber gehörte trotzdem dem Eishockey. Es hat uns sehr geholfen und über manche Not hinweggetröstet."

Fritz Sturm ist Jahrgang neunundzwanzig und als ihm das Wort Eishockey über die Lippen kommt, fangen seine Augen an zu leuchten. Mitte der vierziger Jahre, als Deutschland soeben das düsterste Kapitel seiner Geschichte hinter, aber noch keine Zukunft vor sich hatte, war er ein eishockeybegeisterter Bursche, der mit seinen Freunden in Ermangelung eines Pucks einer alten Schuhcremedose hinterherjagte. „Wir haben an unsere Schuhe die altbekannten Absatzreißer geschraubt und mit Baumästen gespielt", entsinnt sich Fritz Sturm, als spräche er von vergangener Woche, „und auf der Dose stand Nigrin."

Blutjung war der waschechte Kaufbeurer seinerzeit noch, aber wiederum auch schon alt genug, um in einer entbehrungsreichen Zeit das Leben in die Hand zu nehmen. So wurde der junge Fritz Sturm zu einem der Männer der ersten Stunde – und das gleich in doppelter Hinsicht, denn er war nicht nur dabei, als der Eissportverein Kaufbeuren aus der Taufe gehoben wurde. Damals. Anno sechsundvierzig. Im Gasthof Engel. Vielmehr stand Fritz Sturm auch von Anfang an für den neugegründeten ESVK auf dem Eis.

Aber der Reihe nach. Kaufbeuren war zwar von der Bombardierung verschont geblieben, doch litt auch die Stadt an der Wertach unter den drastischen Folgen des Zweiten Weltkrieges. „Für die Menschen ging es ums nackte Überleben", erinnert sich Fritz Sturm, der 1945 als Fünfzehnjähriger eingezogen und zur irrwitzigen Verteidigung einer Straße nach Sonthofen kommandiert worden war, und er erzählt vom Leid, vom grassierenden Hunger und vom Tauschhandel.

Eishockey wurde in Kaufbeuren aber trotzdem gespielt. Auf dem Eisweiher. Hingebungsvoll. Und ganz augenscheinlich auch gut. „Die Schulen waren geschlossen", merkt der gebürtige Kaufbeurer an, „und am Eisweiher hat uns ein Mann aus Füssen zugeschaut. Ludwig Kuhn. Er wurde später zum Nationalspieler. Buben, ihr spielt ja prima Eishockey, rief er uns zu, ihr müsst einen Verein aufmachen."

Ein kühner Gedanke, doch kam die Sache tatsächlich ins Rollen, denn die dürren und ausgemergelten Burschen zählten zwar durchweg noch keine achtzehn Jahre, aber sie konnten Georg Leitner, dessen Eltern den seinerzeit in der Schmiedgasse ansässigen Gasthof Engel betrieben, überreden: „Der Lotsch war der einzige Erwachsene", verrät Fritz Sturm, „und er hat uns zugesagt, den Vorstand zu übernehmen, wenn wir einen Verein mit einer echten Mannschaft gründen wollten."

Eine Versammlung war freilich nicht selbstverständlich, denn das Allgäu gehörte zur amerikanischen Besatzungszone und nicht nur zu derlei Absichten musste die Militärregierung ihre Zustimmung erteilen. Die Amerikaner aber begegneten der Kaufbeurer Eishockeyverrücktheit mit Wohlwollen. Sie gaben grünes Licht und standen auch fürderhin hilfreich zur Seite. „Zum Training fuhren wir mit einem Lastwagen der Amerikaner nach Füssen. Bei minus fünfzehn Grad saßen wir auf der Ladefläche. In warme Decken gehüllt und trotzdem frierend."

Fritz Sturm kramt in seinen Erinnerungen. Zweifellos funkelten seine Augen ebenso hell, als er sich am Abend jenes fünfzehnten Januartages anno sechsundvierzig erwartungsvoll in den Gasthof der Leitners begab, um der Gründungsversammlung des ESV Kaufbeuren beizuwohnen. Wohl ahnten die fünfundzwanzig jungen Leute seinerzeit nicht, dass sie einen bedeutenden Beitrag leisteten, um die von den Kriegswirren verschüttete Zukunft wieder ein Stück weit ans Licht zu holen, und das historische Ausmaß ihres Tun sahen sie bestimmt ebenso wenig voraus, vom Zauber des Anfangs beseelt aber waren sie ganz gewiss.

„Der Lotsch war auf dem Eis nicht so talentiert wie manch anderer", sagt Fritz Sturm augenzwinkernd, „aber er setzte sich sehr für den Verein ein und hat alles zusammengehalten. Er war tüchtig und ist unser erster Vorstand geworden. Auf der Versammlung herrschte eine Art Aufbruchsstimmung und wir alle verspürten ein Hochgefühl."

Der Eissportverein Kaufbeuren war gegründet und alsbald stand auch eine Mannschaft. Aus Fritz Sturm wurde Fritz der Stürmer. Mit der Montur war es allerdings noch nicht allzu weit her: „Wir hatten fast nichts und eigentlich spielten wir beinahe ohne Ausrüstung. Kein Helm. Kein Schulterschutz. Kein Knieschutz. Ich habe zum Spielen die Glacéhandschuhe meiner Großmutter angenommen und unsere ausgebleichten roten Dressen haben wir uns von den Handballern geliehen. Unten herum haben wir selbstgenähte Skihosen getragen."

Dürftig war die Ausrüstung und einfach die Zeit, groß aber die Leidenschaft und hingebungsvoll die Einsatzbereitschaft. „Mit gespendeten Brettern haben wir eine niedrige Bande um die Eisbahn aufgebaut und zusammengenagelt. Es war toll und es herrschte eine große Begeisterung", gerät Fritz Sturm ins Schwärmen und er rühmt den Ehrgeiz, den Zusammenhalt und die Kameradschaft der Kaufbeurer Eishockeyfreunde.

Man darf die Vergangenheit nicht verklären. Dafür war sie zu hart, dafür hat sie den Menschen zu viel abverlangt. Es hat aber allerhand für sich, gemeinsam etwas auf die Beine gestellt zu haben. Trotz aller Not. Trotz aller Hürden. Trotz aller Erschwernisse.

Wir sitzen gemütlich im geschmackvoll mit Stilmöbeln eingerichteten Arbeitszimmer und während seine zuvorkommende Gemahlin Elisabeth Kaffee und Gebäck aufträgt, ruft sich Fritz Sturm die allerersten Spiele ins Gedächtnis. Noch im Februar 1946 erkämpften sich die Kaufbeurer Grünschnäbel auf dem Faulenbacher See nach einem schnellen 0:3-Rückstand ein vielbeachtetes 3:3 bei der deutschen Jugendmeistermannschaft des EV Füssen, in deren Reihen nicht nur Xaver Unsinn und Markus Egen wirbelten, und auch bei dem umgehend arrangierten Rückspiel gelang auf dem heimischen Jordanweiher ein Unentschieden mit demselben Ergebnis.

„Als der Puck über die niedrige Bande geschlenzt wurde", weiß der unterhaltsame Eishockeykenner eine Gänsehaut hervorrufende Anekdote aus dem ersten Heimspiel der Vereinsgeschichte zum Besten zu geben, „wollte Xaver Unsinn diesen wieder zurückholen. Der Eisweiher hatte aber warme Quellen und der Xaver fiel in ein Eisloch. Er versank bei strengem Frostwetter fast bis zum Hals im eiskalten Jordanweiher. Er war halbgefroren und wir tauten ihn im Gasthaus Bad wieder auf, sodass er im letzten Drittel wieder spielen konnte."

Obwohl die Menschen der Schuh an allerlei Stellen drückte, wurde der Mannschaft um Fritz Sturm, Ludwig Schuster, Albrecht Schmidt, Helmut Posselt, Max Mayer, Sepp Wannemacher und Max Amann große Aufmerksamkeit zuteil. Der neugegründete Eissportverein wurde im Nachkriegskaufbeuren offensichtlich als Lichtblick wahr- und als Bereicherung angenommen: „Die Leute wollten auch wieder einmal eine Freude haben und etwas anderes erleben als ihre Not. Es kamen viele Zuschauer und die provisorischen Schneeränge waren stets dicht besetzt."

Fritz Sturm, den damals alle Fitze nannten, hält für einen Augenblick inne, dann aber sprudeln seine mitunter anekdotenhaften Erinnerungen aus dem anerkannten Torjäger hervor. Er erzählt von dem mannshohen Eisberg, den sie tagelang wieder wegpickeln mussten, als sie den Schlauch über Nacht an zwei Holzschragen gebunden hatten, von dem heimatvertriebenen Gablonzer Gisbert Thamm, der bei seinem ersten Spiel in einer langen Unterhose auflaufen musste, von der überstürzten Flucht aus Weßling, wo die Zuschauer den aufstiegsentscheidenden Kaufbeurer 6:5-Sieg nicht verkraften konnten, von einem kleinen Bier und einer Scheibe Pressack als Aufstiegsprämie, von Heinz Krikorka, den die Zuschauer wegen seines selbstgebastelten Schulterschutzes für bucklig hielten, und von den begeisterten „Fitze vor, noch ein Tor"-Rufen der Kaufbeurer Eishockeybesucher.

Schon bald wurden die sportlichen Ambitionen größer, die Spiele ernsthafter, die Gegner schwerer, die eigenen Erwartungen anspruchsvoller. Auch die Wälle um die Eisbahn wuchsen. Schließlich waren sie imstande, Tausende von Menschen aufzunehmen. Das Abenteuer hatte begonnen.

Einstweilen aber standen die Aufeinandertreffen mit Miesbach, Straubing, Ziegelwies, Holzkirchen und den als Haudegen gefürchteten Weßlingern noch sichtlich unter dem Einfluss des Wetters, sollte Kaufbeuren die Revolution eines Kunsteisstadions mit Holztribüne doch erst 1958 erleben. Die Tücken des Natureises konnten indessen nicht verhindern, dass sich das Kaufbeurer Eishockey prächtig entwickelte. Schon 1952 gelang der Aufstieg in die Landesliga, die zweithöchste Spielklasse überhaupt. Im Laufe der Jahre kamen nach und nach starke Spieler hinzu. Kapitän Fritz Medicus. Torjäger Fredl Hynek. Vom SC Ziegelwies die Gebrüder Schaudeck.

Ehe Fritz Sturm schließlich wegen des zeitraubenden Einstiegs in das schwiegerelterliche Traditionsgeschäft Werz & Sturm seine Schlittschuhe 1956 an den Nagel hängte, half er noch beim Sprung in die höchste deutsche Spielklasse kräftig mit. Binnen zehn Jahren hatte sich der junge Eissportverein Kaufbeuren Stück für Stück bis ganz nach oben gekämpft und in der Oberliga Süd sollte er nun auch im Punktspielbetrieb auf die Besten des Landes treffen. Auf Riessersee, Tölz und wieder auf Weßling, insbesondere natürlich aber auf den benachbarten deutschen Serienmeister EV Füssen, der seine Übermacht auf berühmte Spieler vom Schlage eines Xaver Unsinn, eines Ernst Trautwein, Paul Ambros, Markus Egen und Max Pfefferle gründete. Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte.

Der im elterlichen Gasthaus Hirschkeller aufgewachsene Fritz Sturm ist gleichermaßen ein offener und ein bodenständiger Mensch, der weit über den Tellerrand hinauszublicken vermag und auch als langjähriger Stadtrat guten Ideen unabhängig von deren Herkunft aufgeschlossen gegenüberstand. Er ist zeitlebens in Kaufbeuren geblieben. Nur einmal hat er seine geschätzte Heimatstadt für zwei Jahre verlassen, als er Anfang der Fünfziger in Krefeld sein Studium zum Textilingenieur absolvierte. Mit Preußen Krefeld errang der Kaufbeurer 1951 sensationell die deutsche Eishockeymeisterschaft und auch die Teilnahme am berühmten Davoser Spengler Cup darf man getrost in den Rang des Besonderen erheben.

„Nur noch der Schuster Luggi und ich sind von den Gründungsmitgliedern am Leben geblieben. Es wäre schön, wenn wir nächstes Jahr beim siebzigjährigen Vereinsjubiläum unsere siebzigjährige Mitgliedschaft gemeinsam feiern könnten", flicht Fritz Sturm einen großartigen Gedanken in einen Nebensatz ein. Dann nehmen wir mit einem festen Händedruck Abschied voneinander. Nach der berührenden Begegnung mit dem Eishockeyurgestein erscheint mir die Gründung des Eissportvereins Kaufbeuren wie ein Vermächtnis jener Männer der ersten Stunde, die auch Männer der Tat waren. Sie haben den Grundstein für einen Verein gelegt, der die Menschen im Allgäu noch heute in seinen Bann schlägt.

Fritz Sturm ist einer der Männer der ersten Stunde und er hat seinem ESVK ein Leben lang die Treue gehalten. Noch immer glüht rotgelbe Eishockeyleidenschaft in dem sechsundachtzigjährigen Kaufbeurer. Sie verleiht seinen spannenden Erzählungen aus fernen Tagen Ausdrucksstärke, Lebendigkeit und Nähe. Auch seine Erinnerungen sind ein kleines Vermächtnis und das Beste daran ist, dass Fritz Sturm selber ein Teil seiner Kaufbeurer Eishockeygeschichten ist, denn die Geschichte des ESVK ist auch seine Geschichte.

Text: Manfred Kraus

Das vollständige Gespräch ist als Interviewtext „Auf ein Wort mit Fritz Sturm" auf der Homepage von Manfred Kraus zu finden.

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