Eishockeyverrückt. Rotgelbverrückt.

Vereins-News

12.07.2016 13:3912.07.2016 13:39 | geschrieben von ESVK-Presseteam

Eishockeyverrückt. Rotgelbverrückt.

Der Kaufbeurer Drittelergebnisse wegen von Dirlewang nach Füssen gefahren

Von Manfred Kraus

Die ausladenden Äste der knorrigen Trauftannen griffen weit auf den einsamen Waldweiher hinaus und im tief verschneiten Winterwald verschwand der buschige Schwanz eines rotbraunen Fuchses hinter den braunschuppigen Stämmen. Wir trugen zwar noch immer unsere uralten Schraubendampfer an den Winterschuhen, die Eierbriketts aber waren einer kleinen schwarzen Hartgummischeibe gewichen. Wenn diese in dem zum Eishockeytor umgedeuteten Hasenstall einschlug, zerbröselte sie nicht zu feinen Kohlebröckchen. Brach jedoch einer unserer einfachen Holzschläger, drohte nach wie vor erhebliches Ungemach. An Ersatz war nicht zu denken und wir mussten uns mehr schlecht als recht behelfen und einen Ast absägen, der in seiner Form zumindest halbwegs an einen Eishockeystock erinnerte. Etwas anderes blieb uns nicht übrig eingangs der Siebziger auf dem malerischen Waldweiher des Dorfes Mindelau im oberen Mindeltal.

Da war man drüben im benachbarten Dirlewang schon einen bedeutsamen Schritt weiter, was indessen nicht von ungefähr kam, gab es dort doch einen jungen Mann, der sich nicht nur die Frostnächte um die Ohren haute, um in der klirrenden Winterkälte mit Mindelwasser den Eisplatz zu spritzen, sondern sich immer wieder auch nach Füssen begab, um beim Schlägerfabrikanten Markus Egen einen Schwung Stöcke zu beschaffen. Nun lag Füssen seinerzeit noch weniger um die Ecke als heute, weshalb sich die Frage aufdrängt, warum Erwin Sontheimer wegen ein paar Eishockeyschlägern den beschwerlichen Weg auf sich nahm. Die Antwort fiele schwer, wären da nicht die Leidenschaft, die Anspannung und die Aufregung.

„Wenn der ESVK in Düsseldorf spielte", erinnert sich Erwin Sontheimer, „trieb es mich zum Kobelhang hinauf. Aber nur aus dem einen Grund, weil dort in den Drittelpausen die Spielstände durchgesagt wurden und ich in Füssen erfahren konnte, wie es in Düsseldorf hieß. Es gab in jener Zeit keine andere Möglichkeit, an aktuelle Zwischenergebnisse heranzukommen und daheim hätte ich es nicht ausgehalten, ohne zu wissen, wie es beim ESVK stand. Das hätte mich zum Wahnsinn getrieben. Also bin ich zum Kobelhang gefahren. Selbst bei Schneefall. Das ganze Spiel habe ich dann aufgeregt und sehnsüchtig auf die Durchsagen gewartet. So verrückt war ich."

Not macht eben erfinderisch und die Leidenschaft treibt unerwartete Blüten. Immerhin aber schlug Erwin Sontheimer zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn er mit seinem NSU 1000 auf der kurvigen Strecke den Schnee umpflügte. Schließlich brachte er nicht nur Drittelergebnisse, sondern auch Eishockeyschläger heim ins obere Mindeltal, weil er vor dem Eishockey noch Markus Egen seinen Besuch abstattete. Zum Stockkauf, aber natürlich auch zum Fachsimpeln. Diese Begegnungen mit dem Eishockeyidol der Fünfziger haben bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Noch heute sprechen Respekt und Hochachtung aus seinen Worten, wenn er erzählt: „Markus Egen war eigentlich immer selber da, wenn ich anklopfte. Er war ein überaus bescheidener Mensch. Man konnte mit ihm reden wie mit einem Mitglied der eigenen Familie. Obwohl er zu den ganz Großen des deutschen Eishockeys gehörte, kannte er keinerlei Allüren. Ein sehr bodenständiger und angenehmer Mann, der sich überhaupt nichts eingebildet hat. Keine zehn Mark kostete das Stück Egen Northstar Special mit gebogener Kelle. Auf dem Dachboden droben habe ich noch zwei."

Der berühmte Schlägerhersteller Markus Egen, brandgefährlicher Torjäger, dreimaliger Olympiateilnehmer und dreizehnfacher deutscher Meister als Spieler und Trainer, verließ das Füssener Eishockey nur einmal, nämlich um den Allgäuer Rivalen ESV Kaufbeuren zu trainieren. Auf einem abgegriffenen Mannschaftsfoto aus dem Jahr 1969 steht das Füssener Idol mit dem Kaufbeurer Idol Fredl Hynek Schulter an Schulter. Dessen glanzvolle Spielerkarriere neigte sich zwar schon stark ihrem Ende entgegen, doch stand für den beliebten Kaufbeurer Eishockeyrastelli bereits eine neue Tür offen.

Derweil kümmerte sich Erwin Sontheimer, der in den Siebzigern an der Seite des Mindelheimers Franz Reimer, des Torhüterlokalhelden Josef Glatze Sirch und der Brüder Kolonko seine Schlittschuhe für den EV Bad Wörishofen schnürte, im heimischen Dirlewang hingebungsvoll um den Eisplatz. „Wir konnten es doch gar nicht mehr erwarten, bis es endlich kalt genug war. Zusammen mit Willi Kehle, dem Cousin von Füssens Nationaltorwart Toni Kehle, habe ich nächtelang Eis gespritzt. Als Untergrund hatten wir bloß einen Sandboden und das Wasser holten wir aus der vorbeifließenden Mindel. Wegen der Kälte drohte aber die Pumpe ständig einzufrieren. Deswegen bin ich immer wieder heimgelaufen, um drunten in der Waschküche Wasser abzukochen. Das habe ich dann kübelweise durch die Finsternis getragen."

Große Stücke hält der Dirlewanger nicht nur im Rückblick auf Franz Reimer, dessen Söhne Jochen und Patrick ihre ersten Schritte beim EV Bad Wörishofen machten, um dann beim ESVK groß zu werden und schließlich von Kaufbeuren aus die Eishockeywelt zu erobern. Torwart Jochen wurde wiederholt als bester Schlussmann der Deutschen Eishockey Liga ausgezeichnet, Rechtsaußen Patrick entwickelte sich zum überragenden Stürmer des Landes und er wurde sogar zweimal zum Spieler des Jahres gekürt. „Franz Reimer war ein richtig Guter", schwärmt Erwin Sontheimer vom Vater der beiden heimatverbundenen Nationalspieler, „seine Söhne haben ihr Talent jedenfalls nicht gestohlen. Auch Franz hatte das Zeug zu mehr, aber er wollte seine gute Arbeitsstelle bei der Stadt Mindelheim nicht aufs Spiel setzen."

Nacht um Nacht spritzte der Dirlewanger an der Mindel Eis. Seine ganz große Liebe aber gehörte dem ESV Kaufbeuren, dessen hochveranlagten Junioren unter der vortrefflichen Anleitung des legendären Fredl Hynek mit dem Gewinn der deutschen Meisterschaft 1971 der große Wurf gelang. Zur entscheidenden Kraftprobe in Riessersee begleitete ein riesiger rotgelber Tross das Nachwuchsteam ins Werdenfelser Land. Sage und schreibe die Hälfte der fünfzehnhundert Zuschauer im Olympiaeisstadion drückte den Allgäuer Himmelsstürmern die Daumen und als Kapitän Stefan Metz im Fallen der titelbringende zweite Kaufbeurer Treffer gelang, wurde ein Märchen wahr.

Selbstverständlich saß auch Erwin Sontheimer im Kaufbeurer Fanbus. „Ein wunderbares Erlebnis. Wir feierten nach dem dramatischen Spiel in Garmisch ein großes Fest. Erst im Stadion, dann im Bayerischen Hof. Alle waren sie da. Der Trainer, die Betreuer, die Mannschaft und die Fans. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung und unser Bus fuhr erst in den frühen Morgenstunden wieder heim nach Kaufbeuren", erzählt der 66-Jährige mit leuchtenden Augen und er betont das Band der Gemeinschaft, das den nicht für Schubladen taugenden Eissportverein von der Wertach schon damals zusammenhielt. In Kaufbeuren gewinnt man gemeinsam und in Kaufbeuren verliert man gemeinsam. Das schafft eine Bindung, die auch dann hält, wenn einmal Stricke reißen.

Die fulminanten Meisterjunioren stellten eine wahre Fundgrube starker Spieler dar und Erwin Sontheimer kann noch heute ihre Namen aufzählen. Gerhard Schuster, Peter Ustorf, Georg Riederer, Heinz Seip, Fritz Füller, Gerhard Petrussek, Hubert Sulzer. Nicht zu vergessen Franz Klöbel, mit dem ihn alsbald eine Eishockeyfreundschaft verband. Stefan Metz sollte als Mitglied des legendären deutschen Bronzeteams fünf Jahre später in Innsbruck sogar olympisches Edelmetall gewinnen.

Der beste Kaufbeurer aller Zeiten, da ist sich Erwin Sontheimer trotz der bemerkenswerten Klasse der 71er Meistermannschaft sicher, sollte jedoch erst noch kommen. Er war damals erst acht und ein Bub, reifte aber schließlich zu einem der Allergrößten der deutschen Eishockeygeschichte heran. Selbstverständlich beobachtete der bescheidene Dirlewanger auch ihn schon im Nachwuchsbereich regelmäßig: „Didi schaute nie auf den Puck. Er hatte den Kopf immer oben und er führte die Scheibe blind. Er stand auf den Schlittschuhen wie ein junger Herrgott und schon bei den Junioren war sein Schuss unglaublich hart und genau. Ein genialer Instinktspieler mit einem tollen Torriecher. Stocktechnisch einsame Spitze. Didi Hegen war unfassbar gut." Erwin Sontheimer gehört zu den Stillen im Land und wenn er es sagt, dann meint er es auch so.

Der passionierte Modelleisenbahnbauer hing mit Leib und Seele an seinem ESVK und seine sprudelnden Erinnerungen an gemeinsame Kaufbeurer Eishockeytage zeugen von seinem rotgelben Herzblut. „Weißt du noch", kommt ihm unvermittelt eine Begebenheit aus den Siebzigern in den Sinn, „als es damals geschneit hat, was bloß herunterging? Da hätten wir nicht einmal aus dem Haus gehen und schon gleich gar nicht bis hinauf nach Kaufbeuren fahren dürfen. Trotzdem konnten uns keine zehn Pferde davon abhalten. Nach dem Spiel wären wir dann beinahe nicht mehr heimgekommen. Ihr seid auf dem Weg über Wörishofen mit eurem Käfer fast die ganze Nacht im Schnee stecken geblieben. Wir haben die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als bei Pforzen zufällig ein schwerer Bärenmarkelastwagen von Ingenried herunterkam und seine Spuren in den tiefen Schnee walzte. In denen konnten wir uns mit Ach und Krach über Lauchdorf heim nach Dirlewang kämpfen."

Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie noch immer vor mir, die alten Zeiten, und wenn ich nur tief genug in mich hineinhorche, höre ich auch, wie der Puck in dem umgekippten Hasenstall einschlug. Eishockeyverrückt waren wir und rotgelbverrückt auch. Das Eishockey war unser Leben, dem ESVK gehörte unser Herz. Er war ein Teil von uns und wird immer ein Teil unserer eigenen Geschichte bleiben. An den Winterschuhen die uralten Schraubendampfer, spielten wir auf dem verträumten Waldweiher des Dorfes Mindelau hingebungsvoll die Partien vom Berliner Platz nach. Eines Tages aber passierte mir wieder ein Malheur. Ich blieb in einem Wurzelstock hängen und mein Eishockeyschläger brach. Betrübt ging ich mit der Säge in den Wald, ohne zu bemerken, dass mein Vater derweil nach Dirlewang fuhr. Als er in seinem beigegrauen Käfer zurückkam, hielt er einen Egen Northstar Special in der Hand.

[Das vollständige Interview mit vielen weiteren Details finden Sie als Blog „Auf ein Wort ... mit Erwin Sontheimer" unter http://www.manfred-kraus.com/ Die Abbildung zeigt das Kaufbeurer Mannschaftsfoto von 1964.]

Zurück